Wie erleben Flüchtlinge die
Flutkatastrophe?
Ein psychologisches Statement zum
Zusammenhang von Flucht und Flut
5.2.2022 | Rund drei Viertel der in
Deutschland lebenden Flüchtlinge aus den
Ländern Syrien, Irak und Afghanistan sind
durch Gewalterlebnisse traumatisiert. In den
meisten Fällen mehrfach, so eine Befragung
des Wissenschaftlichen Instituts der AOK
(Wido) von 2018.
Etwa 40 bis 50 Prozent der erwachsenen
Flüchtlinge entwickelten eine post-
traumatische Belastungsstörung (PTBS)
(Gäbel et al., 2006), welche sich dadurch
kennzeichnet, dass Betroffene nach dem
Erleben eines Traumas über einen langen
Zeitraum gequält werden von sich
aufdrängenden Bildern, Alpträumen
und/oder Flashbacks. Meist werden sie
unerwartet und unkontrolliert mit den
Symptomen überflutet. Hinzu kommen eine
überhöhte körperliche Erregung und eine
Rückzugstendenz bzw. Vermeidungs-
verhalten. Ohne erfolgreiche Behandlung
können die genannten Symptome jederzeit
wiederkehren oder schlimmer werden. Ein
solcher Wiederanstieg wird auch als
Retraumatisierung bezeichnet.
Das Furchtstrukturmodell (nach Foa und
Kozak, 1986) erklärt diese anhaltend erhöhte
Verletzlichkeit. Es beschreibt Furcht als eine
Gedächtnisstruktur, welche nach dem
Erleben eines traumatischen Ereignisses als
Reaktion auf eine massive Bedrohung
entsteht. In das Furchtnetzwerk sind neben
dem traumatischen Ereignis verschiedene
Elemente – wie Gedanken, körperliche
Reaktionen (Schwitzen oder auch Herzschlag)
und Gefühle (z.B. Ohnmacht und Hilflosig-
keit) integriert. Das Furchtnetzwerk umfasst
auch Fakten, die mit dem ursprünglichen
Trauma nur leicht assoziiert sind, etwa das
Parfum eines Gewalttäters. Je mehr
Elemente die Furchtstruktur enthält, desto
häufiger kann sie durch unterschiedliche
Reize aktiviert werden.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die extrem
hohe Bedrohung der Flutkatastrophe – eine
Naturkatastrophe, die für viele Menschen
intensive Gefühle von Angst und Unsicher-
heit ausgelöst hat und von vielen als
traumatisierend erlebt wurde. Menschen, die
bereits unter einer posttraumatischen
Belastungsstörung litten, gilt ein besonderes
Augenmerk. Auch wenn die Flut zunächst
eine vollkommen andere Situation als das
ursprüngliche Trauma darstellt, so ist davon
auszugehen, dass viele Anknüpfungspunkte
mit der bereits im Gehirn entstandenen
Furchtstruktur bestehen. Eine Retrauma-
tisierung ist somit möglich.
Caritas-Mitarbeiterin Hannah Knopp vom
Fachdienst Migration – Psychosoziales
Zentrum für Flüchtlinge: „In der Psycho-
therapie mit geflüchteten Menschen, welche
die Flutkatastrophe miterlebt haben, konnte
ich dies ebenfalls beobachten. Die meisten
sind noch dabei, sich von ihrer Trauma-
tisierung zu erholen, sind dabei, sich einen
sicheren Aufenthalt zu erkämpfen, ein neues
Leben aufzubauen und wurden durch die
Flut erneut erschüttert. Ihr Unglück hört
nicht auf. Auf einmal sieht es auch hier, in
Deutschland, aus wie im Krieg. Auf einmal ist
es auch hier nicht mehr sicher. Die Folge -
die PTBS Symptomatik spitzte sich bei vielen
zu. Alte Bilder und neue Bilder vermischten
sich, das Gefühl der Unsicherheit, die
körperliche Alarmbereitschaft stieg an, das
Rückzugsverhalten wurde wieder mehr.“
Ein Klient, der zwar selbst nicht direkt von
der Flut betroffen war, aber auch in
Ahrweiler wohnte, verspürte den starken
Wunsch beim Aufräumen zu helfen. Doch
gleichzeitig löste das alles so starke
Empfindungen bei ihm aus, dass er sich
aufgrund seines extremen Überforderungs-
erleben zurückzog, statt zu helfen.
Menschen, die unter den Symptomen einer
PTBS leiden, schützen sich auf ihre Weise.
Rückzug und Vermeidungsverhalten sind
normale Schutzreaktionen. Es ist eine Art
Überlebensmechanismus, um sich keiner
weiteren Gefahr auszusetzen und das
Trauma nicht ständig wiedererleben zu
müssen.